Extremvegetarier: Wenn Veganismus zur Essstörung wird

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Wenn Veganismus zur Essstörung wird

Unsere Kolumnistin schrieb von ihrer ersten Begegnung mit einem Veganer und sprach mit einer Ärztin. Damit hat sie einen kleinen Shitstorm ausgelöst. Hier der Text, der die veganen Gemüter so erregt.

Unsere Kolumnistin schrieb von ihrer ersten Begegnung mit einem Veganer und sprach mit einer Ärztin. Damit hat sie einen kleinen Shitstorm ausgelöst. Hier der Text, der die veganen Gemüter so erregt. Von

Veganer nehmen ihr Anliegen ernsthaft ernst. Das musste ich erfahren, nachdem ich kürzlich in meiner Kolumne in der „Welt am Sonntag“ über Veganer geschrieben hatte. Auf Facebook hagelt es seither Beschimpfungen. Die nettesten Schreiber unterstellen mir ein Leben hinter dem Mond, die härteren Anfeindungen sind nahezu justiziabel.

Die extremen Reaktionen bestätigen die These der amerikanischen Autorin Mary Eberstadt. Ihrer Meinung nach hat in der westlichen Welt die Debatte über das richtige Essen längst den Stellenwert der alten Moralfrage nach dem richtigen Sexualverhalten erreicht. Noch in den 1950er-Jahren durften die Menschen verzehren, wonach ihnen der Sinn stand, aber sie konnten nicht offiziell lieben, wen und wie sie wollten. Heute ist das andersherum. Ob sich die Aufregung lohnt? Hier der Originaltext der Kolumne, der die veganen Gemüter so erregt.

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Der Mann schweigt. Und isst seinen Spargel mit Sauce hollandaise ohne Ei. Und schweigt. Nippt an seiner Schorle. Schweigt. Isst Pasta mit Tofufüllung. Alles vegan, alles sehr gut, alles sehr gesund, an diesem Abend im veganen Dinnerclub. Eigentlich ist ein Dinnerclub ? wie ich in einer vorigen Kolumne schon ausführlich berichtete ? eine anregende Institution, weil man mit fremden Leuten ins Gespräch kommt. Aber nicht mit diesem Tischnachbarn.

Es ist mein erster Veganer-Clubabend, und er ist der erste Veganer, den ich kennenlerne. Oder versuche kennenzulernen. Wie lange er schon vegan lebt? „Seit Jahren“. Wie lange er schon kein Fleisch isst? „Seit der Kindheit, mochte ich nie“. Schweigen. Der Mann ist um die fünfzig, halblange graue Haare, große Füße. Könnte Lehrer sein.

Fleischgerichte ohne Fleisch

Es ist mir leider unmöglich, eine heitere Kolumne über die Veganismus-Welle zu schreiben, also darüber, warum gerade so viele Menschen außer auf Fleisch auch noch auf Eier, Milchprodukte, Honig und sogar Seidenblusen verzichten. Es läuft generell nicht so richtig zwischen den Veganern und mir. Dabei gebe ich mir Mühe. Als vor zwei Jahren ein veganes Restaurant bei mir um die Ecke eröffnete, war ich unter den ersten Gästen. Es roch nach Küchenfett, die Hauptspeisen erinnerten an die Fleischgerichte in der Kantine. Nur ohne Fleisch. Nicht schlimm. Aber auch nicht gut.

Nichts gegen Weltverbessern durch Essen. Und schon gar nichts gegen Veggie-Days. Wenn ich mit Vegetarier-Freunden ins Restaurant gehe, bin ich immer ein bisschen neidisch auf ihre vernünftige fleischlose Wahl, so wie auf Menschen, die es schaffen, nur ab und zu mal zu rauchen. Und Menschen, die etwas Gutes tun in ihrer Freizeit.

Vegane Köchinnen – hübsch, lustig, undogmatisch

Ich bin noch kein so guter Mensch. Aber ich bemühe mich. Manchmal schaffe ich es, beim Asiaten Tofu statt Hühnchen zu bestellen. Ich habe auch dafür gesorgt, dass wir hier im Stil-Ressort 2011 über den ersten veganen Supermarkt Deutschlands berichteten, der mittlerweile zur veganen Supermarktkette expandiert ist. Ich besitze sogar ein veganes Kochbuch und bereite danach einmal im Monat einen tollen Salat mit Röstkartoffeln zu.

Das Buch hat eine der Köchinnen aus dem veganen Dinnerclub geschrieben. Anders als mein erster Veganer sind diese Köchinnen ? meine ersten Veganerinnen ? gar nicht grummelig, sondern hübsch, lustig, undogmatisch. Erst auf Nachfrage erklären sie, warum sie auch Eieressen eklig finden („die männlichen Küken aus der Legehennenzucht werden geschreddert“) und Milchtrinken sowieso („die armen Kühe bekommen ihre Kinder weggenommen“). Eine von ihnen berichtet, dass sie sich sehr erleichtert fühle, seit sie das mit den Eiern und der Milch sein lasse, aber auch ziemlich zugenommen habe. „Mit gutem Gewissen schmeckt es viel besser“, sagt sie und: „Ich habe irgendwie nicht geglaubt, dass auch vegane Cupcakes Kalorien haben.“

Darauf ein Snickers

Ich will nicht dick werden. Aber auch nicht wie der schweigende Veganer. Ich frage herum, ob jemand sonst noch welche kennt. „Zwei Freundinnen haben gerade versucht, zwei Wochen vegan zu leben“, erzählt eine Freundin. „Die eine hat nach einer Woche aufgegeben, weil sie zu viel abgenommen hat. Die andere hat noch zwei Wochen drangehängt und dann auf Attila Hildmann umgeschwenkt.“ Hildmann ist dieser Veganer von den Bücher-Bestenlisten, der „Vegan for fit“ geschrieben hat. Ein Diätbuch, das auch zum Verzicht von Weißmehl, Zucker, Alkohol rät. Schon wenn ich daran denke, will ich aus Trotz gleich ein Snickers essen. Irgendetwas Fieses.

So muss es der Freundin der Freundin auch gegangen sein. Jedenfalls hat sie kein Gramm mit Hildmanns Anleitung abgenommen ? und speist jetzt wieder „nur vegetarisch“. Aber abends keine Kohlenhydrate. So viel Nachdenken über Essen kann nicht gesund sein. Und tatsächlich berichtete eine Ärztin beim Small Talk (da sind Veganer jetzt öfter Thema) beiläufig, sie behandle in der Praxis in jüngster Zeit immer mehr Veganerinnen. Ich hake telefonisch nach, und sie erklärt: „Die kommen meist wegen einer Mangelerscheinung. Oft stellt sich dann heraus, dass sie unter einer Essstörung leiden und außerdem noch Veganerin sind.“

Orthorexia nervosa

Wie gesagt, kein lustiges Thema. Kaum lege ich auf, landet in meiner Post ein Rezensionsexemplar von „Ethisch essen mit Fleisch“. Darin berichtet die amerikanische Sozialpsychologin Lierre Keith, die 20 Jahre vegan lebte, wie diese Ernährung sie krank machte, aber sie sich das lange nicht eingestehen konnte. Keith schreibt, sie habe sich nach ihrer Heilung in den Überlebensberichten von Essgestörten „weit mehr wiedererkannt“, als ihr lieb war. Mit Bulimikerinnen und Magersüchtigen einte sie außer dem Nährstoffmangel vor allem die Angst vor falschem Essen.

„Orthorexia nervosa“ taufte der amerikanische Arzt Steven Bratman 1997 das krankhafte Verlangen nach korrekten Lebensmitteln. Der schweigsame Veganer im Dinnerclub taut dann doch auf, ungefähr als der Rhabarber-Nachtisch serviert wird. Wir reden kurz über Politik. „Der Euro muss weg“, erklärt er. „Sonst geht es noch weiter bergab mit Deutschland.“ Wir erfahren, dass der Veganer früher die Linkspartei wählte, jetzt aber zur Alternative für Deutschland umschwenken wird. Ich merke, wie ich anfange, mich maßlos aufzuregen. Den Euro abschlachten! Was für eine Vorstellung. Die AfD ist für mich das Gleiche wie Tierquäler für Tierschützer. Die Gemeinschaftswährung zu meucheln ist für mich so verwerflich, als würde einer im Zoo Amok laufen und Flamingos rupfen. „Was machen Sie denn so beruflich?“, frage ich den Veganer. „Sag ich nicht“, sagt er. Sag ich doch. Nicht lustig.

Brenda Strohmaier ist Redakteurin im Stil-Ressort – und bemüht sich, weniger Fleisch zu essen und wenn, dann nur bio.

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