Partys mit Stretchlimo und Nahtoderfahrung: Junggesellenabschiede können heute nicht extrem genug sein. Auch Frauen lassen es kurz vor der Ehe noch mal richtig krachen. Aber warum nur? Von Michèle Loetzner
Im Sommer 2012 trug sich in Kaiserslautern Folgendes zu: Ein junger Mann bekam von seinen Freunden einen Holzkasten mit Schnäpschen umgeschnallt. Bald würde er heiraten, davor sollte die Männerrunde im Kollektiv zum Vollrausch antreten. Als er einem Passanten einen Klaren andrehen wollte, kam es zum Streit, Gründe unbekannt. Nach viel Gebrüll trennten sich die Kontrahenten, doch wenige Minuten später wurde der Bauchladentrupp durch die quietschenden Reifen eines Autos gestoppt, das quer über die Fahrbahn zum Stehen kam. Heraus sprang der Widersacher von eben, plus vier seiner Kumpel. Es begann eine Prügelei, der Bräutigam wurde so vermöbelt, dass die Hochzeit verschoben werden musste. Alles in allem ein zeitgemäßer, gelungener Junggesellenabschied.
Seit dem Jahr 2009 und dem ersten Film der „Hangover“-Trilogie sind Junggesellenabschiede wieder zum Pflichtprogramm geworden, gern in der Extremvariante. Kurz zur Erinnerung: Im Film machen sich drei Männer auf nach Las Vegas, um einen Freund in die Ehe zu verabschieden. Das Ganze läuft irrsinnig aus dem Ruder, aber trotz widriger Umstände scheinen die vier die beste Zeit ihres Lebens zu haben. Dem Roadmovie folgten eine Reihe weiterer Filme, die das Thema Junggesellenabschied aufgreifen, wie „Brautalarm“ oder „Die Hochzeit meiner dicksten Freundin“.
Alle suggerieren Ähnliches: Warum mit dem Bollerwagen abholen, wenn man einen Hummer mieten kann? Warum Bier, wenn es Champagner gibt? Warum der Lieblingsclub und nicht gleich Rio? Geld spielt keine Rolle, Hauptsache total krass. Außerdem: Mindestens eine Person muss vorübergehend in Polizeigewahrsam genommen werden, am besten Braut oder Bräutigam. In Kaiserslautern: geglückt.
Der Hamburger Trendforscher Peter Wippermann hat für die Sehnsucht nach der großen Abschiedsparty für das Singledasein eine Erklärung: „Seit der Millenniums-Krise streben viele wieder nach Bürgerlichkeit, denn die suggeriert ihnen Sicherheit. Dazu gehören auch Rituale wie die Hochzeit oder eben der Junggesellenabschied. Vorhergehende Generationen wie die 68er haben diese ja eigentlich völlig abgeschafft.“ Nun schafft man sie wieder an ? allerdings in der Post-68er-alles-geht-Variante. Dafür gab es bislang nicht allzu viele Vorlagen. Und genau deshalb ? so Wippermann ? sei Hollywood eine starke Inspiration.
Hinzu kommt, dass die Facebook-Generation stärker denn je an Ereignissen interessiert ist, die sie fotografieren, erzählen und posten kann ? gern gleich mit Patina. Dank Programmen wie Hipstamatic und Instagram wirkt das neuartige Junggesellenbesäufnis mit Gummipuppe sofort wie ein uraltes, unabdingbares Initiationsritual.
Es ist ja nicht so, dass der Junggesellenabschied völlig verschwunden war. Auf dem Land gab es ihn die ganze Zeit in rustikaler Form. Nun hat er die eventhungrigen Städter erobert. Und Hollywood macht mal wieder vor, wie es geht. Schon seit Jahrzehnten demonstriert das US-Kino, wie die einzelnen Stationen der Liebe auszusehen haben und welches Personal man dafür braucht, vom „Date Doktor“ bis zum „Wedding Planner“. Kein Wunder, dass auch hierzulande nun Stag Nights oder Hen Dos gefeiert werden, wie die Angelsachsen die Partys von Junggesellen beziehungsweise Junggesellinnen nennen. Schließlich laden Mütter längst auch zu Baby Showers (Baby-Geschenke-Partys) und Abiturienten zu Prom Nights statt zu Abibällen. Sogar die Spring-Break-Orgie hat Europa erreicht.
Ein neuer Wirtschaftssektor hat sich für all diese Events etabliert, einige wenige Agenturen haben sich auf Junggesellenabschiede spezialisiert. Eine davon ist die „Wunderwerkstadt“ in Berlin, dem beliebtesten aller Orte, die Deutsche zu diesem Zweck aufsuchen, außer Mallorca natürlich. Während der Hochsaison von Mai bis Juli organisieren die Agentinnen Linda Bollenberg und Davina Plönzke um die zwölf Junggesellenrituale pro Wochenende. Die beiden kümmern sich um Organisation und Ablauf, nach möglichst individuellem Muster. Ganz oft geht allerdings der erst nicht sehr originelle Wunsch voran: „So verrückt wie in ‚Hangover‘!“
Das Angebot wird dankbar angenommen. Wer selbst schon einmal einen Junggesellenabschied der modernen Sorte organisiert hat, weiß, warum man dafür Geld ausgibt. Sonst ereilen einen E-Mail-Fluten, deren Betreffzeilen nach kurzer Zeit so lauten: Re:Re:Re:Fwd:Aw:Re:Re. Der Trauzeuge wird zum Zeremonienmeister mit Burn-out-Gefährdung. Allein um sich auf ein Datum zu einigen, müssen dreimal neue Doodle-Listen angelegt werden.
Genau so kamen Linda und Davina zu ihrer Agentur, sie mussten vor einigen Jahren selbst einen Abschied planen. Heute kümmern sie sich hauptberuflich um Limousine und Striptease, diese zwei Zutaten sind nämlich fast am wichtigsten. Frauen wünschen sich dazu am liebsten noch ein professionelles Fotoshooting auf einer Dachterrasse, Männer ein „Agententraining“ mit viel Action in einem Berliner Bunker. Jepp, alle Klischees werden erfüllt. „Wer bei uns bucht, gibt pro Person zwischen 50 Euro und 400 Euro aus. Im Schnitt sind die Gruppen zu acht, genau so viele, wie in eine Stretchlimousine reinpassen.“ Insgesamt landet man schnell im dreistelligen Bereich. „Wir versuchen alles zu erfüllen, aber auch wir haben Grenzen: Wir besorgen zum Beispiel keine Prostituierten“, erklärt Linda Bollenberg. Ihr ist sehr bewusst, welchen Turbo die ‚Hangover‘-Trilogie ihrem Geschäft verpasst hat. „Seitdem ist die Zahl der Gruppen gestiegen, die etwas Außergewöhnliches wollen. Wir holen sogar Leute mit dem Helikopter ab oder bestellen die Jugendliebe zur Party ein, damit der Bräutigam sich final von ihr verabschieden kann.“
Vorbei sind die Zeiten, in denen man nur ein Hasenkostüm aus Polyester oder einen pinken Tüllschleier brauchte, um einen lustigen Abend zu verbringen. Jetzt wird tiefer in den Geldbeutel und die Ideenkiste gegriffen. Das Ziel „Vollrausch“ ist zwar immer noch dasselbe, aber der Weg dorthin muss Kreativpreis-verdächtig sein. In welche Sphären das gehen kann, macht Großbritannien vor. Dort gehören die Hen- und Stag-Partys zum festen Feierritual mit gewolltem Nahtod-Ausgang. Wie das aussieht, hat der Fotograf Dougie Wallace über zwei Jahre in Blackpool dokumentiert, einem britischen Küstenstädtchen und Hochburg für Sauftouren vor der Ehe. Seine Bilder zeigen Männer und Frauen in Warnwesten oder Hello-Kitty-Schlafanzügen, lattenstramm, beim maßlosen Essen oder sich übergebend. Als Krönung: ein Bräutigam nackt mit Klarsichtfolie an einen Laternenpfahl gefesselt.
Bei der letzten Party vor dem Hochzeitsfest hat die Emanzipation auch bei uns Volles geleistet. Beide Geschlechter feiern gleich viel und gleich hart. Noch vor ein paar Jahrzehnten, zur Blütezeit der rein männlichen Junggesellenabschiede, war das undenkbar. Damals galt es ja sogar als unschicklich, wenn Frauen betrunken oder ? oh Gott ? mit Zigarette über die Straße liefen. Trendforscher Wippermann erinnert daran, dass Frauen fast unbemerkt eine männliche Bastion erobert haben, wenn dadurch auch der gemeinsame Polterabend irgendwie im Partynirwana verschwunden ist.
Größer, teurer, verrückter feiern ? das klingt eigentlich nach einem harmlosen Spaß. Wenn da nur nicht die tiefe Sehnsucht nach Perfektion wäre, sobald es ans Heiraten geht. Da wird das Ritual schnell zum Stressfaktor. Nicht nur für den Planer, auch für die restlichen Gäste. Ein Beispiel aus der Praxis. Kerstin, die in Paris lebt, wollte als Trauzeugin ihrer besten Freundin Steffi, die im heimatlichen Dorf in Niederbayern geblieben ist, etwas Besonderes organisieren: ein Wochenende in Paris mit Bootsfahrt auf der Seine, Spa-Besuch und Shopping-Tour mit persönlichem Chauffeur. Abends ein Tisch in einem der hipsten Pariser Clubs, um Mitternacht sollte André der Stripper dem Ganzen die Krönung aufsetzen.
Es musste der beste, tollste und großartigste Trip in Steffis Leben werden. Bis Kerstin ihr Vorhaben den restlichen Freundinnen kundtat. Die überschlugen kurz, dass für sie der Wochenend-Ausflug pro Person auf über 1000 Euro kommen würde, und sagten reihenweise ab. Das war einfach zu viel von allem.
Man hätte sich einigen können auf ein ähnliches, aber günstigeres Wochenende in der nächsten deutschen Großstadt, aber Kerstin war so frustriert, dass sie sich wochenlang nicht mehr meldete, bis man keinen Termin mehr festlegen konnte, an dem die meisten Zeit hatten. Der Junggesellenabschied fiel aus. Auf der Hochzeit schämten sich alle Freundinnen, die Braut war bitter enttäuscht.
„Wir denken, wir müssen fehlerfrei funktionieren und aus allem das Beste herausholen“, sagt der Aachener Paartherapeut Volker van den Boom. Das gilt für die Trauzeugen wie für das Brautpaar. „In unserem Alltag versuchen wir ständig, alles richtig zu machen, und nehmen dabei oft unnötig Rücksicht. Das nährt im Gegenzug auch den Wunsch nach totalem Kontrollverlust.“ Damit aber nur der intimste Freundeskreis etwas davon mitbekommt, wird gerade für den Extrem-Exzess gern weit gereist, am liebsten in eine anonyme Großstadt. Insofern das der Geldbeutel hergibt.
Das mag nicht gesund sein. Aber es bringt Freunde näher zusammen. Und Freunde fühlen sich für viele heute mehr nach Familie an als die eigentlichen Blutsverwandten. Die neuen Rituale, die diesen Freundschaften dienen, sind auch deshalb durchaus hilfreich, findet sowohl Trendforscher Wippermann als auch Therapeut van den Boom. Und sie vermitteln dabei das Gefühl von Sicherheit. Quasi ein beschützter Vollrausch. Nur sollte man sich eben vorher nicht so viel Stress machen, sonst endet dieses Fest unter Freunden genau wie diese andere berüchtigte Familienfeier. Sie wissen schon: die mit Baum, Gans und Nervenzusammenbruch.
Wer zu ungesunden Übertreibungen beim Feiern neigt, sollte sich vielleicht ? wie es in den vergangenen Monaten bereits drei Millionen Deutsche getan haben ? noch schnell den dritten Teil von „Hangover“ ansehen. In der letzten Folge der Trilogie wird demonstriert, wie die Fortsetzung des Exzesses aussieht: Nun geht es nicht mehr um Junggesellenabschiede, sondern die Protagonisten machen sich auf, einen der Ihren in eine (nicht näher spezifizierte) Anstalt zu verfrachten. Von Hochzeit keine Spur.